Die Evaluierungskommission unter die Leitung von Univ.-Dr. Dr. Ludwig A. wühlte sich durch die vorhandenen Akten und legte am 24. Februar und am 9. Mai 2008 zwei Zwischenberichte vor. Ludwig A. sah es allerdings als prolematisch an, dass ein ganzer Teil der Vernehmungsprotokolle gesperrt waren und die Kommission die Akten von der Staatsanwaltschaft und des Untersuchungsrichters nicht erhalten hatte. Das gleiche galt übrigens auch für den palamentarischen Untersuchungsausschuss.
Den Abschlußbericht der Evaluierung legte die Kommission am 9. Juni 2008 vor. In dieser war die Kommission zu dem Schluss gekommen, dass es „lediglich zu einer unvollständigen Aufarbeitung gekommen ist und nicht alle kriminaltaktischen und kriminalpolizeilichen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden“. Neben diversen Mängeln auf kommunikativer Ebene und bei der Medienarbeit wurde unter anderem festgestellt, dass die Ermittlungen „um und rund um Wolfgang Priklopil“ erheblich durch Personen erschwert wurde, welche eine Art „Schutzschirm“ um das Opfer Natascha Ka. gebildet hätten – mit Vorgaben, Einschränkungen und Restriktionen. Und womit die Führungsspitze der Polizei und die Vertreter der Justiz offenbar überfordert gewesen wären.
Angemerkt wurde bei dieser Gelegenheit ein erstaunlicher Umstand:
„Hochkarätige Rechtsexperten aus dem Bereich des Medienrechtes ließen sich bereits
wenige Tage nach dem Auftauchen der Natascha Ka. von ihr vertraglich
bevollmächtigen (ein Umstand, der bei einem derart nachhaltig traumatisierten
Tatopfer jedenfalls verwunderlich ist).“
Und:
„Das Zusammentreffen“ zuvor genannter diverser widriger „Umstände, gepaart mit zum Teil bemerkenswert anlehnungsgeneigten und verunsichert agierenden Führungskräften,
führte schlussendlich zu einer Situation, in der teilweise geliehene Autorität bzw. Angst, persönliche Befindlichkeiten sowie die Frage nach „einem Schuldigen“ vordergründiger erschienen, als die fachlich saubere Aufarbeitung der eigentlichen Fragestellung:
Was ist in den Wochen vor dem Verschwinden von Natascha Ka. bzw. in all den Jahren danach eigentlich wirklich passiert und wer hat dabei welche Rolle gespielt?“
Die Kommission ging dieser eigenen Frage allerdings nicht nach. Sie stellte fest, dass zumindest die Ermittlungen im Familien- und Bekanntenkreis des Opfers umfassend geführt worden sind, wenn es auch nicht möglich gewesen war, „einen Verdacht gegen eine bestimmte Person herauszuarbeiten.“
Gemeint war hier offenbar ein konkreter Verdacht mit entsprechenden Indizien, denn mit Ernst H. hatte es sehr wohl einen sogar naheliegenden Verdächtigen gegeben. Inwieweit in diese Richtung tatsächlich ermittelt wurde, war eine ganze andere Frage, auf welche die Kommission allerdings nicht einging.
In Sachen Mehrtäter/Mitwisser merkte die Evaluierungskommission aber an, dass von Anfang an mit der Aussage der Zeugin Ischtar A. ein Hinweis in Richtung Mehrtäterschaft vorgelegen habe. „Auch die in der Strafanzeige vom 22. September 2006 enthaltenen Angaben von Natascha Ka. über das Verhalten des Wolfgang PRIKLOPIL während des
Aufenthaltes in einem Waldstück bei Strasshof, vor der Anfahrt zum Wohnhaus in der Heinestraße 60, wiesen in diese Richtung.“
Zu der „Polizeipanne“ notierte die Kommission „Mängel“ bei der ersten Überprüfung von Priklopil und dessen Fahrzeug durch zwei Polizisten vor Ort. Diese hätten nur das Fahrzeug überprüft und gleichzeitig nicht einmal von der Personenbeschreibung der einzigen Entführungszeugin Kenntnis gehabt. Da Priklopil damals kein Alibi vorweisen konnte, hatte somit seine Täterschaft nicht ausgeschlossen werden können. Andere Fahrzeughalter wären sogar gründlicher überprüft worden als Priklopil.
Der zweite Hinweis auf einen möglichen Täter, der vom Hundeführer Rev.Insp. P. stammte, wurde von der Kommission als ein überprüfungswerter „und nicht umfassend abgearbeiteter“ Hinweis gewertet, die bloße Nachfrage am Gendarmerieposten und das Ablegen des Aktenvermerks aber nur als „nicht sachgerecht“ bezeichnet. Die Kommission nannte hier als mögliche Ursachen die Unterbesetzung des Ermittlerteams, das Fehlen eines Informationsmanagements, der wenig systemathische Umgang mit Überprüfungsergebnissen und dem Fehlen eines „Vier-Augen-Prinzips“.
Die Kommission stellte demnach durchaus „Ermittlungsfehler“ fest und bezeichnete den Hinweis des Polizeihundeführers P. als eine „nicht adäquat behandelte Mitteilung“, reduzierte diesen aber erstaunlicherweise als einen Hinweis „vom Hörensagen“. Denn, und das merkte der Endbericht eben nicht an, es hatte sich hierbei um die fatalen „Ermittlungsfehler“ gehandelt. Stattdessen behauptete die Kommission, dass „eine im Verlies versteckte Person auch im Fall einer Hausdurchsuchung mit Einsatz eines Diensthundes mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gefunden“ worden wäre.
Diese Behauptung ist allerdings nicht mehr als eine Behauptung – und Unsinn. Eine Beurteilung der Situation in Priklopils Haus in Strasshof im Jahre 1998 konnte 2008 nicht seriös erfolgen und ebensowenig die Qualität der Suchhunde beurteilt werden. Eher ist das Gegenteil der Fall, weil der Keller unter der Garage natürlich mit einer Luftzufuhr ausgestattet war. Mit dieser Behauptung durch die Evaluierungskommission wurde stattdessen der Umstand kaschiert, dass es nie zu einem Einsatz von Suchhunden gekommen war.
Die Polizeiführung, Staatsanwaltschaft und der Untersuchungsrichter hatten bereits am 25. August 2006 vereinbart bzw. angeordnet, dass alle am Tatort in Strasshof vorgefundenen schriftlichen Aufzeichnungen und auch Videos von Natascha Ka. zu versiegeln und dem Untersuchungsrichter G. zu überbringen waren. „Die Vernehmungsprotokolle mit Natascha Ka. wurden ab diesem Zeitpunkt „vereinbarungs- bzw. auftragsgemäß“ (so ein Besprechungsprotokoll) ausschließlich im Original angefertigt und unverzüglich dem Untersuchungsrichter vorgelegt.“
Begründet wurde dies mit dem Opferschutz wie auch mit der Absicht, die unerlaubte Weitergabe von Informationen und Inhalten zu verhindern. Die Polizei behielt keine Kopien auf Papier oder in Dateiform zurück.
Diese Maßnahme wurde von der Evaluierungskommission als „nicht zulässig“ bezeichnet. Selbstredend konnte dies kaum förderlich für die polizeilichen Ermittlungen gewesen sein.
Die Kommission hatte bekanntlich auch nicht die in einem Gerichtstresor verwahrten Niederschriften mit den Aussagen von Natascha Ka. erhalten, ebensowenig wie eine Reihe von Beweismitteln, die bereits ausgefolgt waren. Dies war auch ein weiterer Kritikpunkt.
„Unter derartig gravierenden Rahmenbedingungen war es zwar kinderpsychologisch nahe liegend und schlüssig, die Tatermittlungen ab dem Wiederauftauchen der Natascha Ka. im Sinn der umgehend wirksamen Einflussnahmen von Experten so fortzusetzen, dass der inzwischen zur jungen Frau herangewachsenen Tatbetroffenen höchstmöglicher Schutz ihrer Intimsphäre gewährt wird. Was sich allerdings nach Lage des Falles als nicht nachvollziehbar darstellt, ist, dass eine Reihe von Gegenständen, die im Wohnhaus (samt ‚Verlies’) des (infolge Selbstmords nicht mehr greifbaren) bekannten Täters sichergestellt worden waren, in Befolgung der ersichtlich von der Opferbegleitung ausgegangenen Impulse an das Tatopfer ausgefolgt wurden, ohne zuvor ihren objektiven und von einer zusätzlichen seelischen Opferbelastung weitestgehend unabhängigen Beweiswert (insbesondere durch Anfertigungvon Kopien) zu sichern. Im Einzelnen handelte es sich dabei um Videokassetten, ein Tagebuch, Bekleidung, beschriebene Zettel und diverses anderes persönliches Eigentum der Natascha Ka., dessen Beschaffenheit bzw. Inhalt nunmehr größtenteils ebenso wenig verifizierbar ist, wie die zeitlichen und sonstigen Modalitäten der Einbringung in das so genannte ‚Verlies’. Ein derartiger Umgang mit relevantem Beweismaterial ist bei einer eigenständigen Wahrnehmung der entsprechenden Ermittlungsverantwortung (in Richtung auch zumindest eines weiteren Tatkomplizen) mit einem umfassenden Verständnis sämtlicher Aspekte wirksamen Opferschutzes schwer in Einklang zu bringen.“
Warum war dem so? Das Kritisieren von den aufgezeigten Vorgängen war das eine, die Eruierung der Ursache eine andere. Um die ging es aber nicht. Denn insgesamt kam Ludwig A. als Vorsitzender der Evaluierungskommission zwar zu dem Schluss, dass da einiges bei der Polizeiarbeit schief gegangen war und anderes nicht mehr – mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln – zu rekonstruieren sei, es aber zu keiner Vertuschung gekommen sei.
„Die Anregung von Dr. H zu einer Evaluierung der Polizeiarbeit in der Sache Ka. ist von der Ressortleitung nie ausdrücklich abgelehnt worden; es ging ausschließlich um die Wahl des Zeitpunktes sowie um das durchführende Organ. Es lag ein konkreter Vorschlag dahingehend vor, die Evaluierung der Sicherheitsakademie zu übertragen; dieser Vorschlag ist vom Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit ausdrücklich gebilligt worden. Es besteht kein Grund für die Annahme, dass in rechtswidriger Weise Fehler bei der Polizeiarbeit unterdrückt werden sollten.
Ebenso wenig besteht Grund für die Annahme, dass ein „Hinausschieben“ der Evaluierung auf Wunsch der damaligen Ressortchefin im Hinblick auf die Wahlen zum Nationalrat im Oktober 2006 stattgefunden habe. Zwar hat Dr. H im Rahmen seiner Darstellung vor der Evaluierungskommission den damaligen Brigadier T. die Äußerung in den Mund gelegt, „die Chefin wolle keinen Skandal vor den Wahlen“. Ob die damalige Bundesministerin für Inneres eine solche Äußerung wirklich gemacht hat, wird sich heute mit Sicherheit nicht mehr feststellen lassen.
Weder in dem einen noch in dem anderen Fall handelt es sich aber um eine „Vertuschung“, weil es ausschließlich um den Zeitpunkt der Evaluierung und nicht um deren Stattfinden als solches gegangen ist.“
Die Kommission sah auch das Überlassen der Vernehmungsprotokolle an Staatsanwaltschaft und Untersuchungsrichter ohne Zurückbehaltung von Kopien bei der Polizei zwar als kritikwürdig an, erkannte hier aber keine „rechtswidrige Vertuschung“. Begründet wurde dies allerdings mit dem merkwürdigen Argument, dass Staatsanwalt und Untersuchungsrichter informiert gewesen wären.
Auch bei dem nicht weiter bearbeiteten Hinweis des Polizei-Hundeführers erkannte die Evaluierungskommission keinen Akt der Vertuschung oder eine politische Einflussnahme. Nur in einem Fall „(Besuch von zwei Ermittlungsbeamten beim Hundeführer RevInsp. P samt divergierender Aussagen über den entsprechenden Auftrag) könnte eine solche Annahme nicht ausgeschlossen sein. Ein parteipolitisches Motiv ist auch in diesem Fall nicht zu erkennen.“
Der Bericht endet mit den Kapiteln „Bewertung“ und „Empfehlungen“. Die „Bewertung“ endet mit folgendem Fazit:
„Die Kommission gewann den Eindruck, dass die sachdienlichen Ermittlungsansätze im vorliegenden Fall bisher nicht vollständig ausgeschöpft wurden. Dazu wurde in Anknüpfung an den Evaluierungsauftrag des Bundesministers für Inneres unmittelbarer Kontakt zur Oberstaatsanwaltschaft Wien hergestellt.“
Die Veröffentlichung des Abschlussberichtes rief in den Medien wie zuvor eine Reaktion hervor. Ermittlungsfehler der Polizei waren nun offiziell, auch Umstände, die auf Mittäter oder Mitwisser hinwiesen, und andere Merkwürdigkeiten in dem Fall. Obwohl der Bericht insgesamt doch sehr wohlwollend formuliert worden war, forcierte er das Mißtrauen in der Öffentlichkeit erneut.
Diese Öffentlichkeit wusste zu diesem Zeitpunkt noch nichts von der am 30. April 2008 getroffenen Vereinbarung zwischen der Evaluierungskommission und der „SOKO Ka.“ zugunsten weiterer Ermittlungen. Denn der Staatsanwalt Hans-Peter Kr., welcher bereits 2006 den Fall als abgeschlossen erklärt hatte, ignorierte Vereinbarung und Befunde. Er berichtete am 11. Juli 2008 an das Innenministerium, dass angeblich keine weiteren Ermittlungen nötig wären.